Spiegel online - die grosse Kritik vom 17.9.2012
Roman "Als der Regen kam" Die Kleinstadt in uns allen
Von Simon Broll
Helen Nesta ist krank. Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium, so lautet die Diagnose. Alleine wohnen kann die 72-Jährige nicht mehr, das Pflegeheim ist ihr neues Zuhause. Als sich Helens Zustand verschlechtert, reist ihr Sohn Mauro aus Italien in die Schweizer Heimat. Die alte Dachwohnung soll verkauft werden. Ein Pflichttermin, dem Mauro widerwillig nachgeht. Doch während sich die Stadt auf das alljährliche Jugendfest vorbereitet und Mauro von Kindheitserinnerungen übermannt wird, entdeckt er im Leben seiner Mutter Hinweise auf eine lange zurückliegende Romanze.
Den Ausschlag gibt ein Tanz. Die Frau, die sich nicht mehr artikulieren kann, bricht bei einem Spaziergang mit dem Sohn aus ihrer Lethargie aus und gleitet zu einer nur für sie hörbaren Musik über den Boden. "Sie tanzte allein und fast graziös! Oder doch nicht allein? Ihr Blick wirkte beseelt, ihre Hand ruhte auf einer erinnerten Schulter." Mauros Suche nach dem unbekannten Tänzer führt zurück in die eigene Familiengeschichte, aber auch in das Leben der Schweiz während der fünfziger Jahre. Eine Zeitreise, die beweist, dass früher nicht alles besser war und dass Engstirnigkeit, Fremdenhass sowie Neid menschliche Fehler sind, die sich in jeder Generation wiederholen.
Familiengeschichte, Romanze, Heimatbuch
Urs Augstburger, 47, hat mit "Als der Regen kam" gleich mehrere Bücher verfasst. Auf den ersten Blick erzählt der Roman die Geschichte einer zerrütteten Mutter-Sohn-Beziehung. So sehr sich Mauro und Helen auch optisch gleichen, so stark ist die zwischenmenschliche Kluft. Das Leben im Ausland, der Stress in der Arbeit haben den Mittvierziger von seiner Mutter entfremdet. Ein Familienschicksal, das in Zeiten von Mobilität und Berufszwängen viele Menschen ereilt. Erst jetzt, im Angesicht der Krankheit, versucht Mauro eine Annäherung. Und weiß, dass es dafür eigentlich zu spät ist.
In diesem Sinne ist Augstburgers Werk auch eine tieftraurige Erzählung über verpasste Chancen. Helens Demenz, "die Krankheit des Vergessens", verhindert jede Art von Kontakt. Natürlich wartet man gemeinsam mit dem Sohn auf lichte Momente, in denen der glasige Blick der Mutter weicht. Doch allzu große Hoffnungen macht man sich nicht. Eine Heilung ist aussichtslos, wie die Stationsleiterin des Pflegeheims betont. Und damit auch ein klassisches Happy End für die Liebesgeschichte, in die sich das Werk langsam verwandelt.
Schließlich und endlich ist "Als der Regen kam" auch ein Heimatroman. Angesiedelt im schweizerischen Brugg, dem Geburtsort des Autors, das trotz fehlender Namensnennung durch sein Jugendfest deutlich erkennbar wird. Augstburger fängt das Gemeindeleben mit nostalgischem Blick ein - "die verklärte Perspektive eines Rückkehrers", wie eine Romanfigur sagt.
Doch gerade als die Geschichte ins Kitschige abdriftet, kommen Brüche. Das dörfliche Leben erscheint hier nicht als Ideal, sondern als Hort für Moralismus und Intoleranz. Eigenschaften, die laut Augstburgers Roman in der Schweiz stark verbreitet sind und die der Autor als "die Kleinstadt in uns allen" bezeichnet. Eine Kleinstadt, die ebenso isoliert wie Helens Alzheimer.
Die Worte der Vergessenden
Wie aber nähert man sich der Thematik des Vergessens - in einem Medium wie dem Roman, der auf fixierte Wörter und die Möglichkeit der erneuten Lektüre setzt? Augstburger wählt zunächst den klassischen Ansatz, indem er Helens Verfall durch andere Personen beschreibt. Allem voran durch Mauro, für den der Wandel der Mutter nach zweijähriger Abwesenheit deutlich zutage tritt. Helen ist "zerbrechlich und verloren", sie wirkt distanziert, "als trüge sie eine hauchdünne, wächserne Maske über ihrem Gesicht".
Den Kontrast liefern zwei Jugendfreunde der Frau, die beide in die geheimnisvolle Romanze verstrickt sind. In ihren Erinnerungen zeichnen sie das Bild einer jungen Kämpferin, die für die Liebe selbst elterlichen Vorschriften Paroli bietet. Und die nichts mehr gemein zu haben scheint mit der demenzkranken Greisin. Zumindest am Anfang. Dann jedoch setzt Augstburger auf einen Kunstgriff und lässt die Kranke selber zu Wort kommen. Ihre Gedanken, abgehoben in Kursivschrift, ähneln mehr Gedichten als Prosastücken. Mal erscheinen sie schmerzhaft klar ("Ich kann mich an das viele Vergessene nicht mehr erinnern"), häufig jedoch kryptisch-assoziativ ("schau wie die Asche aus den Gesichtern rieselt, zum Glück trägst du dein altes Gesicht im neuen, mein einziges und Kind ohne Namen").
Der Versuch, die Worte der Vergessenden festzuhalten, fasziniert und verstört gleichermaßen. Er macht den Mehrwert dieser Lektüre aus. Zudem ist "Als der Regen kam" spannend geschrieben. Das Buch über Liebe und Erinnerung stellt die Frage, was Heimat ist, und lässt den Leser trotz der traurigen Geschichte hoffnungsvoll zurück. Streckenweise verfällt der Autor dabei in Kitsch - doch bei so bedrückender Thematik ist guter Kitsch manchmal tröstlich.
NZZ
«Zürich liest»
Mit den «Elfenbeintürmlern» im Clinch
Der Schriftsteller Urs Augstburger tritt heute Abend im Rahmen von «Zürich liest» in Bülach auf.
Unter klingenden internationalen Namen sind am diesjährigen Buchfestival «Zürich liest» auch viele Schweizer Autoren zu finden. Einer von ihnen ist Urs Augstburger, der eine neue Form der Lesung entwickelt hat.
Dorothee Vögeli
Bevor es dunkel wird, möchte er zu Hause sein. Denn er fährt schnell und ohne Licht. Mit seinem Rennvelo braucht er von seinem Arbeitsort, dem Fernsehstudio in Zürich, nach Ennetbaden, wo seine Familie wohnt, nicht einmal eine Stunde – doch an diesem Spätnachmittag wird die Zeit knapp: Obwohl selber Journalist und gewohnt, Dinge schnell auf den Punkt zu bringen, kann und will Urs Augstburger sein Schriftstellerleben nicht in eine Kurzform bringen. Wegen der ihm eigenen Gründlichkeit wäre eine solche ohnehin illusorisch. Zudem gehört der 47-Jährige, der in den letzten 15 Jahren sieben Bücher publiziert hat, mittlerweile zu den erfahrenen Schweizer Autoren.
Keine «Wasserglas-Lesungen»
Aufsehen erregte Augstburger mit seiner Bergtrilogie «Schattwand», «Graatzug» und «Wässerwasser». Thematisch brennender denn je ist der dritte Teil: In «Wässerwasser» entwirft er ein Zukunftsszenario zu den Auswirkungen des Klimawandels. Die Grundlage seiner packenden Alpen-Science-Fiction bilden Forschungsberichte, mit denen er sich intensiv auseinandergesetzt hat. Erzähltechnisch gewinnt der Zukunftsthriller des Aargauer Autors an Intensität, indem er die dramatischen Vorgänge dem Leser wie Filmsequenzen vor Augen führt.
Der gekonnte Einsatz solcher Stilmittel hat mit seiner Teilzeitstelle beim Schweizer Fernsehen zu tun. Mittlerweile ist er für Koproduktionen mit freien Filmschaffenden im Bereich Dokumentarfilme verantwortlich. Dank diesem regelmässigen Einkommen ist er nicht auf Auftragsarbeiten wie Kolumnenschreiben angewiesen. Für sein neustes Buch, «Als der Regen kam», profitierte er zudem von seinem Filmwissen. So fand er Bildmaterial vom Brugger Jugendfest aus den fünfziger Jahren, dem zentralen Spielort des neuen Romans. Dank den historischen Aufnahmen konnte er die damalige Szenerie detailgetreu beschreiben, zudem reichern sie seine digitale Neuerscheinung an: Wer den Roman als E-Book liest, kann die Filmsequenzen an den einschlägigen Stellen aktivieren.
Bewegte Bilder als Ergänzung zum Text spielen auch bei seinen Buchpräsentationen eine immer grössere Rolle. Mittlerweile sind diese ein abendfüllendes Programm mit Schauspielern, Musikern und Videoclips. Der Grund ist simpel: Als Augstburger vor 15 Jahren seinen ersten Roman präsentieren musste, überlegte er, wie er die «Wasserglas-Lesung» umgehen könnte. «Sprechen und schreiben sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Ich konnte damals schlecht vorlesen», sagt er. Daher engagierte er Schauspieler, die im Publikum seine Texte lasen, während er auf der Bühne in einem Fauteuil sass. Die Präsentation ergänzte er schon damals mit Live-Musik und Filmsequenzen. Im Rahmen des Buchfestivals «Zürich liest» (siehe Zusatztext) wird Augstburger in Bülach seine multimediale Lesung erstmals allein bestreiten.
Nein, die Schriftstellerei sei früher nie ein Thema gewesen, als Jugendlicher habe er aber Bücher verschlungen, sagt er. Am meisten interessierte ihn die amerikanische Literatur und vor allem auch der von seiner Generation hochverehrte Franzose Philippe Djian. Seinen ersten Roman schrieb Augstburger als 30-jähriger Journalist, der «einmal etwas Längeres» verfassen wollte. Allerdings konnte sich kein Verlag dafür erwärmen. Erst das zweite Manuskript fand beim Zürcher Verleger und Buchhändler Ricco Bilger Anklang. Seither hat Augstburger im Bilgerverlag sechs Bücher veröffentlicht. Um auch das Potenzial in Deutschland nutzen zu können, hat er nun zum Klett-Cotta-Verlag gewechselt.
Heikles Thema Demenz
Spannend sollen die Geschichten sein, die sprachlichen Mittel seien stets in deren Dienst zu stellen, betont er. Seine tiefe Abneigung gegen «Sprach-Schwurbelei» zeigt sich auch in seiner direkten, oft bewusst ungeschliffenen Art des Sprechens. Er sei eben kein E-Typ, sagt er augenzwinkernd und spielt damit auf die hierzulande noch immer forcierte Unterscheidung zwischen ernsthafter und unterhaltender Literatur an. Diese Differenzierung sei ein völlig überholtes Schubladendenken, meint er. «Meint E-Literatur wirklich Ernsthaftigkeit oder nicht eher Elfenbeinturm?», fragt er provokativ. Die «Elfenbeintürmler» empfinde er oft nur als dogmatisch. In ihrem Bewahrungseifer verhinderten sie häufig vieles. So erklärt er sich zudem, dass er nicht selten ungewollt aneckt.
Sein neuer Roman polarisiere aber vermutlich auch wegen der darin eingewobenen Perspektive einer Alzheimerkranken: «Das war ein Wagnis.» Nicht aus persönlicher Betroffenheit, sondern aus Interesse an sich verschiebenden Zeiträumen und sich auflösenden Erinnerungen entschied er sich für dieses Thema. Zum ersten Mal recherchierte er nicht, sondern schrieb die Geschichte in einem Zug durch. Danach gab er das Manuskript Fachleuten in der Demenzpflege und ergänzte es. Offenbar wirkt seine Darstellung mittlerweile fachlich überzeugend: Auf einer Tournee in Zusammenarbeit mit der Aargauer Alzheimervereinigung sei er schon gefragt worden, woher er das alles wisse.
Das Ritual mit der Füllfeder
Obwohl er ein «Computer-Mensch» ist, schreibt Augstburger seine erste Romanfassung jeweils mit Füllfeder. Es sei für ihn ein Ritual, in einer bestimmten Papeterie in Locarno schöne Notizbücher und einen edlen Stift zu kaufen. Diese sinnliche Komponente brauche er, um beginnen zu können. Froh ist er, dass er sein Arbeitspensum beim Fernsehen auf 100-Prozent-Blöcke verteilen kann. So widmet er sich hauptsächlich während der Schulferien dem Schreiben. Für seine Frau und seine 8- und 13-jährigen Kinder könne dies manchmal mühsam sein, räumt er ein, der Rhythmus spiele sich aber jeweils problemlos ein. Inzwischen dunkelt es. Er will trotzdem noch eine Strecke mit dem Velo fahren – und verabschiedet sich mit saloppem Handschlag.
Live-Kritil Bandversion Schaffhausen Schaffhauser Nachrichten, 6.4.2013
Liebe in einer anderen kleinen Stadt
Die vierte Austragung des Literaturfestivals «Erzählzeit ohne Grenzen» ist am Samstag in der Kammgarn mit einem multimedialen Seh- und Hörspiel eröffnet worden. Bis 14. April werden an 34 Orten Romane zum Thema Liebe vorgestellt.
Von WOLFGANG SCHREIBER
Eine «Wasserglas»-Dichterlesung wollte Urs Augstburger nicht bieten. Der Dichter sitzt am Tisch, darauf sein aufgeschlagenes Buch und ein Glas Wasser – das war noch nie das Ding des in Brugg aufgewachsenen, heute in Ennetbaden mit seiner Familie lebenden und beim Schweizer Fernsehen in der Dokumentarfilmabteilung arbeitenden Urs Augst-burger. Daher bot der Verfasser von bis- lang sechs Romanen zur Präsentation seines neuesten Werkes «Als der Regen kam» und zur Eröffnung der 4. «Erzählzeit ohne Grenzen» ein ausserordentliches Seh- und Hörspiel. Er gewährte mit Texten, Filmen (Ausschnitten aus einem Dokumentarfilm aus den 50er-Jahren und aktuellen Aufnahmen des bewaldeten Aareflussufers), Sounds und Songs einen Einblick in seinen Roman, bei dem es um eine unglückliche Jugendliebe geht. Die geschätzten gut 500 Besucher, die zur Eröffnungsveranstaltung der «Erzählzeit» am Samstagabend in das Kulturzentrum Kammgarn gekommen waren, erlebten dabei, dass man dem Erzählen von Liebesgeschichten immer wieder fasziniert zuhört, auch wenn sie eigentlich uralt sind. Shakespeare hat die antike Geschichte von Romeo und Julia in die Weltliteratur gehoben. Gottfried Keller hat sie auf dem Dorf angesiedelt. Leonhard Bernstein hat sie vertont und in die Grossstadt New York verlegt. Urs Augstburger erzählt sie aus Brugg – auch «bloss e chlini Stadt» –, und das gelingt ihm so frisch und eindringlich, dass man meint, man höre sie zum ersten Mal.
Zwei Stunden wie in Trance
Das Publikum, darunter viele Besucher aus der deutschen Nachbarschaft, war hingerissen von der multimedialen Präsentation. Die Herzen der Schaffhauserinnen und Schaffhauser gewann Augstburger, als er bekannte, dass Dieter Wiesmanns Liedertexte untrennbar mit seiner Kindheit und Jugendzeit verbunden sind. Als darauf Hendrix Ackle am Keyboard mit jazzig-rauchiger und dabei leiser Stimme «Bloss e chlini Stadt ...» sang, war auch der Letzte im Saal gewonnen. Sven Furrer als Erzähler, Urs Augstburger und Monika Schärer als Vorleser und die Band mit Hendrix Ackle, Roberto Caruso und HP Stamm erzählten danach die anrührende Geschichte um eine Jugendliebe, die zu ihrer Zeit keine Chance hatte, so intensiv, dass man nach zwei Stunden des Zuhörens wie aus einer Art Trance erwachte, etwa so, wie man es bei Kindern beobachtet, wenn man ihnen eine spannende Geschichte erzählt hat.
Vor Urs Augstburgers Seh- und Hör- spiel hatte Jens Lampater, Kulturbeauftragter der Stadt Schaffhausen, auf der Bühne die politischen «Ermöglicher» der einwöchigen «Erzählzeit» interviewt: Reto Dubach, Regierungsrat und Präsident des Vereins Agglomeration Schaffhausen, Oliver Ehret, Oberbür- germeister der Stadt Singen, und Urs Hunziker, Schaffhauser Stadtrat. Sie haben, obwohl die Mitfinanzierung durch die EU weggefallen ist, ermöglicht, dass die «Erzählzeit» in dieser Woche grenzüberschreitend an 34 Orten wieder stattfinden kann.
Lob für Organisatoren
Viel Applaus gab es für die «Macher» der «Erzählzeit», allen voran für Barbara Grieshaber, Leiterin der Sin- gener Bibliotheken, die Bücher, Auto- rinnen und Autoren in Vorschlag gebracht hatte, sowie für ihr Singener Organisationsteam mit Walter Möll und Gunnar Bamberg. Auch dem Schaffhauser Team mit Nora Regli Bruderer, Jens Lampater, René Specht und Marcel Zürcher wurde mit Applaus gedankt.
Kritik Liveshow St. Galler-Tagblatt
St. Galler Tagblatt, 10.11.2012
JONAS LÜDI
Urs Augstburger hat seine Präsentation auf ein gänzlich neues Level gehievt. Neben ihm steuerten auch noch Monika Schär, die den meisten als TV-Moderatorin bekannt sein dürfte, sowie der Komödiant Sven Furrer am Mikrophon zur Lesung ihren Teil bei. Sie sprachen die Rollen der Charaktere aus Augstburgers Buch «Als der Regen kam» und waren zugleich Erzähler der Geschichte. Unterstützt wurden die Lesenden von einer dreiköpfigen Band um den Pianisten Hendrix Ackle. Bei dem, was dem Publikum auf der Bühne geboten wurde, handelte es sich eigentlich um eine Art Live-Hörbuch mit Bild, Soundtrack und Geräuschkulisse.
Grosses Kino
Die Band führte die Zuhörer mit einer eingängigen Nummer in die Geschichte ein. Auf der Leinwand erschienen die wichtigsten Textpassagen, während im Hintergrund ein Fluss auftauchte, dessen ruhige Strömung zum stetigen Begleiter der Geschichte werden sollte. Zum Rauschen des Flusses begannen die Erzähler die Geschichte vor dem Publikum auszubreiten. Es tauchte ein in eine Geschichte, die ummantelt war vom Rauschen des Flusses und den sanften Klängen von Piano, Gitarre und Trompete. Unwahrscheinlich liebevoll fügten sich die Worte der Vortragenden in dieses Gebilde ein und liessen auch beim Beschreiben von Düften keine Zweifel bezüglich deren Echtheit aufkommen. Ausserdem nutzten die Erzähler den Wechsel ihres Standorts, um einen Orientierungspunkt in ihrer Geschichte zu setzen. Den Charakteren wurden damit ihre persönlichen Standpunkte auf der Bühne zugeteilt.
Tragik und Liebe
Sie erzählten die Geschichte einer an Alzheimer erkrankten Frau und ihres Umfelds. Das Besondere an dieser Krankheit ist, dass neuere Ereignisse manchmal gänzlich aus dem Gedankengut verschwinden, während Erlebtes aus längst vergessener Zeit plötzlich glasklar in den Köpfen der Erkrankten auftaucht.
So scheint auch Helen aus Augstburgers Buch ihren Sohn Mauro nicht mehr zu kennen. Als sie jedoch gemeinsam am Jugendfest in der Stadt verweilen, weckt dies urplötzlich eine tief verborgene Geschichte in Helen auf.
Eine Liebesgeschichte, die sie nun noch einmal durchlebt und von der ihr Sohn nichts wusste. Stück für Stück beginnt Mauro dieser Liebesgeschichte auf die Schliche zu kommen und beginnt dabei seine eigene zu formen. Die wunderschöne Symbolik, welche die Geschichte durchzieht, wurde von Urs Augstburger und seinen Freunden sehr stimmig umgesetzt. Es machte die Erzählung lebendig und doch fein und zerbrechlich.
So waren auch nach dem musikalischen Outro immer noch alle wie verzaubert auf ihren Plätzen in Gedanken versunken. Im Anschluss an die Lesung erhielten die Besucher die Möglichkeit, sich das gesamte Werk mit Widmung zu besorgen, um den Zauber noch etwas weiterführen zu können.
Aargauer Zeitung vom 25.8.2012
Artikel der Aargauer Zeitung vom 25.8.2012
Schauplatzbegehung zum Roman "Als der Regen kam" mit Urs Augstburger
Für Mythen brauchts keine hohen Felsen
Eine Stadt, ein Tag, viele Geschichten. «Als der Regen kam», der neue Roman von Urs Augstburger(47) lässt die Schicksale samt der ungelebten Träume und Geschichten mehrerer Menschen an ein und demselben Ort kondensieren: In Brugg. Doch Augstburger beschert der Stadt nicht bloss ein Dasein als stumme Kulisse. Im Gegenteil: Mit ihren Legenden und Schauplätzen weckt sie in den Figuren Erinnerungen und wird zum Katalysator der Handlung. Grund genug, sich mit dem Autor aufzumachen zu einem Spaziergang entlang der Schauplätze seines Romans. Doch schon bevor wir losflanieren, brennt mir die Frage unter den Nägeln, wie er überhaupt auf die Idee kam, Brugg zum Protagonisten seines Romans zu machen. Er sei auf der Suche nach dem jeweiligen Mythos eines Ortes, erzählt der Autor von «Wässerwasser», «Schattwand» und «Graatzug»: «In meiner Bergtrilogie spielte die Landschaft jeweils eine grosse Rolle.» Und doch seien Geheimnisse, wie sie die Berge ausstrahlen, nicht allein hohen Gipfeln vorbehalten. Jeder Ort habe seinen ganz eigenen Mythos. «Auch Brugg!», lacht Urs
Augstburger.
Diagnose: Demenz
Und tatsächlich: Schon an der Grenze zur Altstadt, wo die Platanen die Strasse säumen, tauchen wir nicht nur ein in deren Schatten, sondern auch in die Welt der Romanfigur Mauro Nesta und seiner alten Mutter Helen. Mauro ist nach vielen Jahren in seine Heimatstadt Brugg zurückgekehrt. Und just bei seiner Ankunft ist das traditionelle Brugger Jugendfest in vollem Gang. «Das Fest gibt es seit 400 Jahren», erzählt
Augstburger. «Doch erst bei meinen Recherchen habe ich realisiert, wie sehr es das Leben der Leute geprägt hat.»
Auch das der Romanfigur Helen, die seit zwei Jahren immer verlorener durch ihr Leben irrt. Schliesslich die Diagnose: Demenz. Ein Thema, das immer häufiger auch ein literarisches ist. «Demenz betrifft mich zwar nicht familiär», erklärt der Brugger Autor. «Aber es ist eine schreckliche und zugleich erschreckend faszinierende Krankheit, weil sich dabei die Ebenen von Erinnerungen, ja ganzer Geschichten gegeneinander verschieben. Ich fand es spannend, das literarisch umzusetzen und gewisse Abschnitte aus der Sicht der Kranken zu erzählen.» Dabei entstanden Passagen von einer brüchigen, ganz eigenen Poetik: «Lindgrüne Seidenluft in den Zweigen, er ist es, er ist nicht richtig Lehrer, er hilft nur aus, drum. Er bläst den Blechbläsern den Marsch vor, marschiert mit, vorbei, linksrechts, links-rechts!»
Jugendfest als Fest der Erinnerung
Und links-rechts, links rechts – nur wegen der Sommerhitze weniger stramm – schlendern auch der Autor und die Journalistin mittlerweile durch einen fast altertümlichen Innenhof, der tatsächlich Mythen und Geheimnisse zu bergen scheint. Vom Hof aus hat man Sicht auf die Hauptschauplätze des Jugendfestes: Den Fischerskopf, die Schlangeninsel und beinahe auch den Gerechtigkeitsbrunnen, der im Buch zum Ungerechtigkeitsbrunnen wird. Und damit sind wir flugs wieder mitten im Roman. Denn ausgerechnet das Jugendfest vermag, was die Medizin nicht schafft: «Der vertraute Duft der Nadeln beschwor die alten Bilder herauf: das goldene Eichblatt auf dem Moosteppich, flinke Mädchenhände an tanngrünen Kränzen, ihr weisses Kleid.» Das Jugendfest nämlich wird ein Fest der Erinnerungen, sogar für Helen, die scheinbar so Gedächtnislose. Und plötzlich beginnt die apathische Frau zu tanzen. Mit einem imaginären Tanzpartner. Nach und nach erahnt Mauro, dass es im Leben von Helen eine grosse Liebe gegeben hat, von der niemand gewusst hat. Und sie muss untrennbar mit dem Jugendfest zusammenhängen. Bloss, wer mag hinter der Figur des mysteriösen Liebhabers stecken? Um diese Frage kreist das Buch, das geschickt zwischen verschiedenen Zeitebenen changiert und trotz etwas salopper Sprache einen Sog zu entwickeln vermag – samt einiger gefährlicher Strudel.
Ganz ähnlich wie jene der Aare, an deren Ufer wir Spaziergänger mittlerweile angelangt sind. Scheinbar friedlich strömt das Wasser dahin. Und doch stellt es im Roman eine geheimnisvolle Gegenwelt zur Zivilisation dar. Eine Welt, in der die Figuren frei sind von gesellschaftlichen Konventionen, jedoch auch eine Welt, die ihre Opfer fordert: Einer der Protagonisten geht ins Wasser, eine andere versucht es und einen fängt das Wasser auf, als er alles verloren glaubt.
Tiefe Spuren einer alten Liebe
Urs Augstburger und Monika Schärer erzählten in Eschlikon eine tragisch-schöne Liebesgeschichte. (Bild: Ruth Bossert)
Das Hör- und Sehspiel des Autors Urs Augstburger und der Kulturmoderatorin beim Schweizer Fernsehen, Monika Schärer, war ein multimediales Erlebnis. Es zog das Eschliker Publikum in seinen Bann.
RUTH BOSSERT
ESCHLIKON. Im Saal ist es stockdunkel. Vorne auf der Bühne, am kleinen Tisch sitzen die beiden Protagonisten. Im Schein der kleinen Leselampe beginnt Urs Augstburger zu lesen. Hinter ihm werden Videosequenzen und historisches Filmmaterial gezeigt, untermalt werden die lebendigen Bilder mit passender Musik, es ist mäuschenstill.
Urs Augstburger schlüpft in die Rolle des Erzählers. Er schildert, wie der Sohn Mauro nach langer Abwesenheit wieder in seine Heimatstadt zurückkommt, wie sich das Städtchen aufs Jugendfest rüstet, Vorbereitungen trifft, und wie er die alte Wohnung seiner Mutter aufsucht und merkt, wie einiges verändert ist. Was soll das improvisierte Boot, die blauen Schildkröten?
Eine verratene Liebe
Nach und nach erfahren die gut 50 Anwesenden in Eschlikon, dass es sich bei der Geschichte «Als der Regen kam» um eine anrührende Geschichte einer verratenen Liebe geht, die eben an diesem einen Tag, Jahrzehnte später, am Jugendfest, in derselben Kleinstadt, die zugleich auch die Kleinstadt in uns allen bedeutet, eine zweite Chance erhält – auch wenn es schon fast zu spät ist.
Im Hintergrund, auf der Leinwand rauscht der Fluss, wird zum Begleiter der Geschichte, vermischt sich mit Eichenblättern. Es riecht fast ein bisschen modrig, Der Hintergrund öffnet das Herz des Betrachters für Geheimnisvolles, Intimes und macht die Liebesgeschichte lebendig und doch zart und zerbrechlich. Helen, die Mutter, ist an Alzheimer erkrankt.
Tanz mit unsichtbarem Partner
Doch an dem Tag, an dem das jährlich stattfindende Jugendfest beginnt, bricht sie plötzlich aus ihrer Isolation aus. Sie tanzt mit einem unsichtbaren Geliebten über das verlassene Parkett. Mauro schöpft Verdacht, dass es im Leben seiner Mutter jemanden gab, von dem er nichts weiss.
Urs Augstburger und Monika Schärer lesen feinfühlig, präzise und in geschliffenem Bühnendeutsch. Sie verkörpern ihre Rollen, ummantelt von sanften Klängen. Liebevoll fügen sich ihre Worte in die wunderschöne, wenn auch tragische Geschichte ein und bescheren dem Publikum prickelnde Neugier, Trauer und auch mal einen herzhaften Lacher.
Die Liebesgeschichte, die Helen als kranke, betagte Frau nochmals durchlebt und von der ihr Sohn Mauro nichts weiss, nimmt immer mehr Gestalt an. Der Sohn kommt seiner Mutter auf die Schliche und merkt, wie er sich daran macht, auch seine eigene Geschichte zu entdecken.
Helen kennt ihren Sohn nicht mehr, hingegen scheinen gewisse Ereignisse aus längst vergessenen Tagen glasklar und lebendig vor ihren Augen aufzutreten. Sie weiss noch genau, wie es war, als plötzlich der Regen kam und das Licht ausging und die Folgen ihr Leben prägten. Auch das Geheimnis der blauen Schildkröten lichtet sich und wie es damals war, als der Kadett mit der rauhen Uniform sie zum Tanz aufforderte.
SI-Style - Live/Buch-Hinweis
Den Reigen der Buchvernissagen eröffnet Urs Augstburger mit seiner wundervollen Liebesgeschichte "Als der Regen kam" am Dienstag, 29. August um 20 Uhr im Zürcher Kaufleuten. Augustburger und seine Freunde haben die Art von Literaturlesung zu einer modernen Form von Seh- und Hörspsiel weiterentwickelt, einer Performance mit Filmclips und Vidoehintergründen zum Werk, die übrigens auch im Buch verlinkt sind, mit Livesoundtrack und Songs der Band um Sänger und Pianist Hendrix Ackle. Gelesen und gluschtig gemacht aufs Buch wird natürlich auch, vom Autor selber, der TV-Frau Monika Schärer und dem Comedian Sven Furrer von Edelmais. Augustburger erzählt in "Als der Regen kam" eine Liebesgeschichte, die am Jugendfest in einem Schweizer Kleinstädtchen anno 1956 ihren Anfang nahm. Ignoranz, Klassenunterschiede und ein Verrat verunmöglichten die Liebe zwischen der Fabrikantentochter Helen und Jakob, dem Aussenseiter. Jahrzehnte später macht sich Mauro, Helens Sohn, auf die Spurensuche der verhinderten Liebe. Seine Mutter, inzwischen schwer demenz-krank, ist ihm dabei keine Hilfe, Mauro kann nur versuchen, die rätselhaften Zeichen zu deuten, durch die seine Mutter sich äussert. Augstburger schildert mit enormer Detailgenauigkeit die Verhältnisse im Städtchen, die erstarrten Konventionen und mit grossem Einfühlungsvermögen die Gedankenwelt seiner Protagonisten. "Als der Regen kam" ist ein hinreissender Liebesroman, frei von Kitsch und Klischées, und darüber hinaus eine Mikroansicht der Gesellschaft von anno dazumal und von heute.
St. Galler Tagblatt, 20.9.2012
Jugendfest in Brugg
Urs Augstburger hat sich mit Bergthrillern und -romanen einen Namen im Zürcher Bilger-Verlag gemacht. Mit seinem neuen Roman wechselt er ins Flachland, genauer gesagt: in seine Heimatstadt Brugg und zum deutschen Verlag Klett-Cotta. Zufällig zum Fest kommt Mauro Nesta in die Heimatstadt zurück, um sich um seine demenzkranke Mutter zu kümmern. Schnell stellt er fest, dass sie die Erinnerung an fast alles verloren hat, dass sie aber völlig in Gedanken an eine alte, vergangene Liebe steckt, von der der Sohn nichts weiss. Im Rausch des Festes mit seinen wiederkehrenden Ritualen und seiner jahrhundertealten Tradition versucht Mauro, der Mutter das Geheimnis zu entlocken und muss sich dabei ungewollt mit seiner eigenen Vergangenheit und seinem Leben auseinandersetzen. Augstburger erzählt diese beinahe märchenhafte Geschichte mit grosser, manchmal allzu grosser Liebe zum Detail, ohne Angst vor grossen Gefühlen. Vor allem die Krankheit der Mutter, die er sehr stimmig und sensibel beschreibt, rettet ihn davor, in Kitsch abzusinken. Ein schönes Buch, dem eine etwas straffere Erzählweise gut getan hätte.
Live-Kritik in der Zeitung Regional, 11.9.2012:
Inmitten tanngrüner Kränze Brugg: Erfolg für Urs Augstburgers Roman mit Lokalbezug zum Jugendfest
(msp) - Der in Brugg aufgewachsene Schriftsteller und Multimedia-Mann Urs Augstburger las letzten Samstag zusammen mit Monika Schärer und Sven Furrer aus seinem soeben erschienenen Roman «Als der Regen kam». Die literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Alzheimer hat der Autor in eine ergreifende und spannungsgeladene Geschichte ge- packt, die er geschickt mit den Ritualen des Brugger Jugendfestes verbindet.
«Kann man Erinnerungen vergessen oder verlieren?», fragte Urs Augstburger das Publikum im vollbesetzten Salzhaus und erklärte: «Keine Angst, wir erzählen nur eine Geschichte. Es geht dabei im Grunde um die kleine Stadt in uns selbst.» Das Rauschen der Aare im Raum, aktuelle und historische Videosequenzen des Brugger Jugendfestes als Bühnenhintergrund und mittragende Musikelemente, gespielt und gesungen von Hendrix Ackle, Roberto Caruso und Hanspeter Stamm, machten die eine Seite der faszinierenden Live-Präsentation aus. Die andere Seite gehörte den sensibel gewählten Textpassagen – rund 20 Seiten von 285 – die von Urs Augstburger, Monika Schärer und Sven Furrer nicht nur gelesen, sondern gleichsam «vorgelebt» wurden.
Haltgebender Rahmen Ruetezug
Schauplatz des Romans ist Brugg, am Tag des Jugendfestes. Der Ruetezug, mit seinen vertrauten Ritualen, vor 50 Jahren schon waren es die selben wie heute, bilden den haltgebenden Rah- men der Geschichte angesichts der zerfallenden Erinnerungen von Helen, die an Alzheimer erkrankt im Brugger Pflegeheim lebt. Wer den Ruetezug kennt, hat beim Lesen wohl stets seine persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen ans Jugendfest im Kopf – und folgt Mauro, dem zurückgekehrten Sohn auf den Tanzboden unter den Platanen, weiss von den roten Lampions und davon, wie sich die Stimmung bei Feuerwerkund Heimzug anfühlt. Die Liebesgeschichte, die einst am Jugendfest ihren Anfang und ihr tragisches Ende nahm, ist tief in der Seele der erkrankten Helen eingekerbt. Doch beim Anblick der Kränze, beim Krachen der Böller oder vielleicht auch bei den alljährlich immer wieder gesungenen Liedern, scheint plötzlich etwas in ihrem Inneren in Bewegung zu geraten. Die seelischen Wunden sollten für immer bedeckt bleiben, doch mit den «oberflächlichen» Fest-Zeremonien brechen sie sich Bahn – und die Mauer der Isolation um Helen beginnt da und dort zu bröckeln. «Der Reigen beginnt/und krönt alle Tänze/die Zeit gerinnt/inmitten tanngrüner Kränze».
Urs Augstburger: Als der Regen kam. Verlag Klett- Cotta, Stuttgart, www.als-der-regen-kam.com