Leseprobe Wässerwasser
Eden war noch unbewohnt, als Agnes zur Welt kam.
Am Morgen nach der stürmischen Nacht stahlen sich erste Sonnenstrahlen durch den Morgendunst und flochten eine goldene Leiter in die Lamellen vor dem Zimmerfenster. Drinnen stillte Lena Amherd zum ersten Mal ihre Tochter. Tante Selma war mit ihnen im Zimmer und half. Agnes jedenfalls begann so zielsicher zu nuckeln, als flüstere ihr jemand ins Ohr, wie sie es anstellen musste.
Überrascht und beruhigt zugleich verließ die Krankenschwester das Zimmer.
Lena drehte sich halb zur Seite. Wenn sie es geschickt anstellte, blieb der ungewohnte, kitzelnde Schmerz an ihrer Brust erträglich. Sie bestaunte das Gesichtchen, in dem sich beim Trinken ein fast heiliger Ernst abzeichnete. Manchmal öffnete Agnes die Augen, doch ihr Blick erreichte Lena nicht, blieb unentschieden und verhangen, als habe Agnes jene Zwischenwelt noch nicht verlassen.
War sie bei Selma?
Lena döste ein, erwachte aber bald wieder, kurzatmig, angsterfüllt, bis Agnes’ Wärme ihr bestätigte, dass sie nichts geträumt hatte. Die Sonne war gestiegen, die Lamellenschatten kletterten die Wand hinab. Dankbar ordnete Lena ihre Gedanken nach den Lichtstreifen.
Selma war gestorben, bevor sie ihre Enkelin hatte sehen können.
In der selben Nacht, einige Zimmer nebenan.
Allein. Ohne ihren Sohn, der nicht ihr Sohn war.
Silvan war bei ihr und Agnes geblieben.
Wie hätte er sich anders entscheiden können?
Silvan war unvorbereitet gewesen, Lena hingegen hatte geahnt, dass es so kommen würde, die ganzen Monate schon. Denn jedes Kilogramm, das sie während der Schwangerschaft zugenommen hatte, verlor Selma gleichzeitig durch ihre Krankheit, als würden sie beide einen ungehörigen Tauschhandel treiben.
Durfte sie sich überhaupt freuen?
Lena wich Selmas strafendem Blick aus.
Hast recht, nur weil du gestorben bist, musst du mir nicht alles durchgehen lassen.
Lena lächelte schief. Ihre Gedanken blieben so sprunghaft wie der Wehenrhythmus in der vergangenen Nacht. Vor drei Jahren erst hatte sie Selma kennengelernt. In kürzester Zeit waren Silvan und sie zu ihren wichtigsten Bezugspersonen geworden.
Jetzt hatte sich alles verändert.
Lena machte eine ungeschickte Bewegung und Agnes protestierte prompt und lautstark.
Ihre Tochter nahm Selmas Platz ein.
Teil 1 - 14. Juli. Morgen
Ruinen der Illusionen sind es. Agnes schenkt den rostigen Skeletten im unteren Plontal keinen zweiten Blick. Ganze Felder riesiger Saugtürme, gebaut zwischen 2020 und 2025, um das Kohlendioxid aus der Luft zu filtern. Jetzt lagert es in Felskammern tief im Boden. Die Extraktionsparks sind vor zwanzig Jahren eine Notfallübung gewesen. Keine schlechte Idee, nur wie so viele andere zu spät umgesetzt.
Ihr Toolbook vibriert, sie steckt es ins Dock am Armaturenbrett. Linus blickt sie aufgeregt an.
„Mam, wo steckst du?“
„Gleich in Genf, ich muss Albin abholen. Was gibt es?“
„Das hier!“
Agnes schielt auf den Bord-Bildschirm. Ihr Sohn steht offensichtlich am Eden-Tor und streckt aufgeregt etwas Dunkles ins Toolbook-Objektiv. Beim zweiten Hinschauen erkennt Agnes eine elektronische Papierrolle.
„Glaubst du, ich könne die von hier aus lesen?“
„Wir werden erpresst!“
„Schon wieder?“
„Mam, diesmal ist es ... ernster.“
Linus entrollt das e-paper, während Agnes lautlos durch den Morgenverkehr der Stadt gleitet. Sie switcht den Bordcomputer auf das städtische Leitsystem und stellt den Blinker zum Spurwechsel Richtung Ausfahrt. Aufwirbelnder gelber Staub nimmt ihr einen beunruhigenden Moment lang jede Sicht.
„Hör zu: Verehrte Besitzer des Eden-Resorts
Wir stellen fest, dass Sie sich zu den Herrschern über das Wasser im Plontal aufschwingen. Sie haben sich der letzten natürlichen Resource dieses Tales bemächtigt und nutzen diese für sich alleine. Ein ganz und gar unsozialer Akt, den wir nicht ..."
Agnes unterbricht Linus.
„Ich habe die Stadt erreicht, Linus, ich muss mich aufs Fahren konzentrieren. Wir besprechen das, wenn ich zurück bin. Nur eine Frage: Was genau wollen die?“
„Wasser, hast du doch eben gehört.“
„Nicht Öl?“
„Wasser.“
„Und womit drohen sie?“
„Sie wollen den Flischwald anzünden!“
"Was?"
Agnes vergisst sekundenlang, dass sie am Steuer sitzt. Sie zwingt sich zur Ruhe, bevor sie Linus anweist, keinem etwas zu sagen, bis sie zurück ist.
„Nicht mal Lucrezia?“
„Aber nur ihr, Linus! Und schick mir den Brief auf mein Toolbook.“
Eine halbe Stunde später rollt Agnes auf dem zentralen Parkplatz von Genf aus. Sie schlägt die Tür hinter sich zu, die Kollektorenmembran der Karosserie richtet sich automatisch zur Sonne. Die Gluthitze hier unten im Flachland nimmt ihr den Atem. Der See bringt keine Linderung, eine schweflige Dunstglocke spannt sich von Ufer zu Ufer. Wie stets im Sommer bringt die Hitze hier unten Agnes sofort an die Grenze des Kollapses. Sie quittiert das ungeduldige Piepsen der Tür, indem sie den Zeigefinger über den Scanner hält. Das dreirädrige Fahrzeug verriegelt die Türen.
Feuer im Flischwald! Agnes wehrt sich mit aller Macht gegen die Panikattacke, schaut nach Luft ringend um sich. "Keiner da, Agnes, keiner da!" flüstert sie sich zu. Es sind nur die schwarzen Schatten aus ihren Alpträumen. Sie lässt die Angst nicht zu, atmet so bewusst, wie sie es in der Therapie gelernt hat, bis sie ihre Beherrschung wieder findet. Ist doch nur eine weitere Erpressung! Die vierte dieses Jahr, für diesmal etwas fantasievoller eingefädelt, dennoch ... Agnes schiebt das Toolbook entschlossen in ihre Handtasche und verdrängt jeden weiteren Gedanken.
Sie wird sich später darum kümmern.
Nach zwei unentschlossenen Schritten Richtung Zentralbahnhof bleibt sie bereits wieder stehen. Welcher Port? Magnetschwebebahn? Zug? Oder gar Solarhelikopter? Selbst den könnte sich Albin leisten. Sie hat keine Ahnung, woher ihr Halbbruder anreist, geschweige denn mit welchem Verkehrsmittel. Letztmals hat er sie aus Paris angerufen, vom Set irgend einer Piratensaga. Worum es genau geht, weiß Agnes nicht, nur selten erfährt sie aus der Presse etwas über seine Regiearbeiten. Sie selbst hat Albin seit Monaten nicht mehr gesehen. Oder summieren die sich bereits zu Jahren?
Agnes freut sich auf das Wiedersehen. Sie braucht Albin. Ein gefährlicher Sommer kündigt sich an, ungeachtet der Erpresser. Der Ploner Stausee nähert sich dem Tiefststand von 2037, der Flischwald rund um Eden ist zundertrocken, erste Glutherde entstehen, das Bewässerungssystem des Resorts stößt an seine Grenzen. Noch sind die Zisternen und der Schluchtsee mit Frühlingswasser gefüllt, aber Agnes ist überzeugt, dass die Zeit für den Notfallplan ihrer Eltern gekommen ist. Der letzte Ausweg. Es macht Sinn, Albin als ersten in Lenas und Silvans Geheimnis einzuweihen, dann kann er sich während seiner Ferien auf die Suche machen. Vielleicht zusammen mit Linus. Im Moment ist Albin wohl der einzige, der ihren Sohn aus der pubertären Lethargie reißen kann.
Ihr Plan hat einen Haken: Sie weiß nicht, wie sehr sie Albin vertrauen kann. Zu verschieden sind sie. Eden gehört beiden, bedeutet ihnen aber nicht dasselbe.